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In deinem Schatten finde ich Zuflucht

ln diesen Tagen der Sommerhitze laden Kirchengebäude zur Abkühlung ein, auch im übertragenen Sinn.

Sommer-Gedanken von Br. Paulus Terwitte

Bei aller Kirchenkritik: Kirchenräume sind „in“. Blättert man durch die sozialen Netz­werke, springen viele Fotos ins Auge, die vor oder in einer Kirche spielen. Zwar wird gern betont, man sei ja selbst nicht kirchlich, doch „das“ müsse „man“ einfach gesehen haben. Un­glaublich der Raum. Unglaublich die Ruhe. Und im Som­mer: Unglaublich, wie schön kühl es in einer Kirche ist!

Die alten Gemäuer speichern die Kühle des Winters, und sie brauchen lange, bis sie durchgewärmt sind. Ein schönes Symbol. Die Kirche geht nicht mit der Zeit. Sie nimmt die Zeit auf, aber dann braucht es, bis sie davon wirklich ganz erfasst ist. Cool down - so ruft ein Kirchengebäude den Menschen zu. In der Hitzig­keit der Diskussionen wie in der Hitze des Sommers: Komm rein. Setz dich hin. Genieße die Stille. Und er­lebe in der Kühle der Kirche etwas von einer Wärme, die dich Erholung finden lässt von der Kälte, die sonst in der Gesellschaft herrscht. Allen überhitzten Dis­kussionen zum Trotz, die von so vielen Ichs angezet­telt werden, lässt der Kirchenraum etwas spüren vom Wir der Jahrhunderte. Es ist mehr als die Summe der Einzelnen. Die einzelnen Heiligen, die Engel, die zu sehen sind, die Bögen, die Pfeiler, die Orgel mit ihren unterschiedlichen Pfeifen: Das Inventar einer Kirche lädt zum Verweilen ein. Bindet ein in eine Geschichte. Öffnet die Sinne für die verschiedenen Künste. Lädt ein zum Nachsinnen. Zur Besinnung. Zu Differenzierung.

Es vergeht wohl keine Ansprache eines der Kirche fernstehenden Menschen, die er in einem Kirchenraum zu halten hat wegen eines Jubiläums oder während ei­ner Trauerfeier oder aus einem anderen bürgerlichen Anlass, in der nicht betont wird, wie sehr die Stille in der Kirche berührt. Wir hier in Frankfurt, an der Lieb­frauenkirche, haben es außen auch auf die Mauer ge­schrieben: Ort der Stille. Die Stille ist ja auch die öku­menischste Weise des Miteinanders im Geheimnis.

Die Kerzen, die in einer Kirche brennen, werden von Menschen entzündet, die sehr unterschiedlich religiös geprägt sind. Und selbst bei denen, die sich für nicht religiös halten, ist das Entzünden einer Kerze ein Ritus, der zum Andenken an Menschen gehört, die einem lieb sind. Eine weltliche Form der Transzendenz: Ich habe für dich eine Kerze angezündet. So steht es in unserem Fürbittbuch, handschriftlich bezeugt, so, als würde man sagen wollen: Ich bin hier zur Ruhe gekommen, und wenn ich es ganz kühl bedenke, dann stelle ich fest: Du bist mir etwas wert. Und ohne dich kann ich nicht sein.

Dass eine Kirche zum Abkühlen etwas wert ist, wird in diesen Tagen der Sommerhitze von vielen Zeitge­nossen wahrgenommen. Gern hält man sich auch an die verständliche Bitte, die Kirchentüren geschlossen zu halten, damit es innen drin kühl bleibt. Vielleicht braucht es wirklich ein kühles Innen, das uns vor der Hitze des Außen schützt. Man darf nicht alles nach innen dringen lassen! Sonst hat man am Ende keine Energie mehr, nachhaltig zu planen, behutsam die Schritte abzuwägen und dem zu folgen, was einem in der Stille des Herzens und des Nachdenkens gewiss ge­worden ist. Ich stelle mir das Gewissen so vor: Es wacht ganz cool im Inneren des Menschen. Wir können uns dorthin zurückziehen, um zu überprüfen, was wirklich wichtig ist und für was es sich lohnt zu leben.

„Birg mich im Schatten deiner Flügel“, so betet der Psalmist im Psalm 17, und zuvor: „Behüte mich wie den Augapfel, den Stern des Auges.“ Dass es in der Welt ein großes Behüten gibt, dass sich ein Himmel spannt, unter dem man sich geborgen fühlen kann, da­von erzählt die Kirchendecke, oftmals ausgemalt mit Sternen oder zumindest mit einer geordneten Struk­tur. Sie verkündet: Im Chaos des Universums gibt es eine Struktur, die wie ein tragendes Zelt ist. Sie schützt vor der Sonnenglut des Seins. Sie wandelt das Dasein­müssen in ein Dasein-dürfen. Wenn Gott mich behütet wie den Stern des Auges, dann sieht Gott durch mich in die Welt. Er braucht mich, um das Geschaffene zu erkennen und ihn dafür zu preisen.

Die Fenster, die eine Kirche hat, lassen das Licht herein durch die Vielzahl der Farbenmuster. So scheint Gott auch in dieser Welt. Er blickt in die Welt durch die Viel­falt der Geschöpfe. Der franziskanische Theologe Bonaventura lädt ein, Gott zu suchen auch im Buch der Schöpfung, aus der er uns anschaut. Die Barockzeit hat es in besonderer Weise vermocht, die gesamte Schöp­fung in ihre Kirchenausstattung einzubauen. Man hört geradezu die Vögel zwitschern, und die Pflanzen ver­strömen ihre spezifischen Düfte. Für einen Moment festgehalten.

Wem es gegeben ist, der setzt sich dieser Form der Abkühlung aus. Der Entschleunigung. Wir erleben das hier an unserem Kapuzinerkloster jeden Tag. Es gibt keine Minute, in der die Liebfrauenkirche nicht von wenigstens einem Menschen besetzt ist. Es wiederholt sich immer neu: Eintreten. Stehen bleiben. Langsam gehen. Den Blick schweifen lassen. Sich niedersetzen. Still sein. Herunterkommen. Ein gebräuchliches Wort unter den Stressgeplagten. Ich finde es passend. Und stelle mir vor: Die Kirche selbst ist ja heruntergekom­men, ein Schutzzelt vom Himmel in die Welt gestellt, Bild des Schutzraumes, den Gott den Seinen gibt.

Augustinus erkennt die Flügel, von deren kühlen­dem Schattenwurf der Psalm 17 spricht, in den aus­gespannten Armen Jesu am Kreuz wieder. Abkühlen unter dem Kreuz. Christsein ist mehr Anhalten als Mit­halten. Wer in diesen Tagen mit allen Sinnen in einer Kirche Abkühlung sucht, dem kann sich die Sehnsucht nach einem kühlen Ort als Bild der Sehnsucht nach einem Leben erschließen, das kühle Momente zulässt. Er erfasst, dass Gebet auch Abkühlung bedeutet. Ver­langsamung des Denkens. Haushalten mit der Energie. Erkundigung dessen, was man sich an nutzloser Ener­gie sparen kann.

Wer sich so beschatten lässt im Kirchenraum, fin­det zu nachhaltiger Energie. „Ja, du wurdest meine Hilfe, ich juble im Schatten deiner Flügel.“

PAULUS TERWITTE ist Kapuziner. Er hat Philosophie sowie Theologie studiert und lebt im Kloster Liebfrauen in Frankfurt / Main. Neben seinem Einsatz für wohnungs­lose und arme Mitmenschen wirkt Bruder Paulus vielfältig als Seelsorger, auch in vielen Medien: bruderpaulus.de. Zuletzt erschien von ihm: „Geht’s noch, Gott? Antworten auf große Fragen“ (Bonifatius Verlag, Paderborn 2022).

Quelle: Christ in der Gegenwart 31 – 31. Juli 2022, S. 5

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